Sepp Hiekisch-Picard: Anmerkungen zu Inessa Emmers traumhaften Bildwelten
Inessa Emmer schafft rätselhafte Bilder mit weiträumigen Landschaftsprospekten, surrealen Motiven und sonderbaren Figurationen – alles eingebettet in eine strahlende, malerische Farbenwelt. Doch die junge Künstlerin arbeitet nicht als Malerin, ihre Werkzeuge sind nicht Pinsel, Ölfarben und aufgespannte Leinwände. Sie nutzt die althergebrachte Technik des Holzschnitts, der in der Ära von Albrecht Dürer und Lukas Cranach seine erste Blütezeit hatte, um nach einer längeren Phase als Mittel der fast schon industriellen Bildreproduktion gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Medium des künstlerischen Ausdrucks wiederentdeckt zu werden. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts setzte HAP Grieshaber den Holzschnitt mit seinen großformatigen Werken als der Malerei gleichwertiges Ausdrucksmittel durch; der Schweizer Franz Gertsch oder das aus Rumänien stammende Künstlerduo Gert und Uwe Tobias erschließen heute der traditionellen Holzschnittkunst eine neue Dimension. Vorbilder und Inspirationen, auf die Inessa Emmer gleich zu Beginn ihres Studiums an der FH Dortmund im Jahr 2008 zurückgreifen kann: „Seit ich zum ersten Mal die riesigen Holzschnitte von Gert und Uwe Tobias gesehen habe, bin ich hin und weg. Ich habe mich direkt an meinen ersten, für mich damals auch schon großformatigen Holzschnitt in DIN-A1 gesetzt. Erst nur in Schwarzweiß, bis ziemlich schnell weitere Farben dazu kamen. Handwerkliches Arbeiten mit Holz hat mich grundsätzlich interessiert, da bot mir der Holzschnitt die Möglichkeit, das Schneiden und Sägen mit dem malerischen Aufbau eines Bildes zu verbinden (…) Bei mir sind es meist Unikate, weil ich meine Druckstöcke aufwendig zusammensetze und verschiedene Druckverfahren, wie z.B. den verlorenen Schnitt anwende. Zudem arbeite ich nicht mit einer Druckerpresse, sondern stattdessen mit meinem Körpergewicht. Somit ist es nicht möglich, jede Farbschicht gleich darzustellen. In der Druckgrafik geht es heutzutage nicht mehr allein um Vervielfältigung. Sie steht der Malerei in Aufwendigkeit und Farbvielfalt in nichts nach“.[i]
Das Medium des Holzschnitts bleibt fortan Inessa Emmers bevorzugte künstlerische Ausdrucksform, auch als sie ab 2012 an die Kunstakademie Düsseldorf wechselt und bei den Professoren Thomas Grünfeld und Stefan Kürten studiert. Besonders der Bildhauer Grünfeld, dessen Meisterschülerin Inessa Emmer im Jahr 2018 wird, bevor sie mit dem Akademiebrief das Studium abschließt, mag mit seinen hybriden Wesen, befremdlichen Skulpturen mit dem Kopf eines Kaninchens und dem Korpus eines Lamms, Mischwesen von Wellensittich und Küken, Fuchs und Katze, Inessa Emmers bereits erprobte Tendenz zu rätselhaften Zusammensetzungen von Mensch und Tier, surrealen Landschaften und kaum deutbarem Bildgeschehen bestärkt haben.
Ihre großformatigen Holzschnitte sind erzählerisch, ohne dabei eine eindeutige Lesbarkeit und Interpretation zuzulassen. Eindrücke von Reisen, Erlebnisse von alltäglichen Situationen, Erinnerungen, Traumhaftes fließen in ihrer Bildwelt ineinander. Koffer, Spielfiguren, Verkehrsschilder, Kinderspielzeug, Kronleuchter tauchen immer wieder auf. Birkenstämme erinnern an die ausgedehnten Wälder und die gewaltigen Landschaften ihrer Heimat in Kasachstan, die sie oft besucht hat, wo noch die Großeltern leben und mannigfache Kindheitserinnerungen verankert sind. Ironie und eine überbordende experimentelle Leichtigkeit scheinen die surrealen Bildwelten der Holzschnitte zu bestimmen. Doch der unbeschwert wirkenden Leichtigkeit geht eine sehr detaillierte Planung voraus, in der die Motive ihrer Gedanken- und Erfahrungswelten nur die Basis einer technisch komplexen Umsetzung sind. Manche Motive basieren auf Fotografien, welche die Künstlerin in den letzten Jahren auf Reisen zum Beispiel auf die Seychellen, nach Indonesien oder nach Costa Rica selbst angefertigt hat. Daraus werden die Bildmotive und Kompositionen in vielen Skizzen weiterentwickelt, ein sehr handwerklicher Vorgang, bei dem keine digitale Unterstützung zum Einsatz kommt. Danach die Umsetzung der Skizzen auf eine Vielzahl von Druckplatten aus Pappelsperrholz: Zuerst entstehen die Farbhintergründe, für die Offsetfarben einzeln angemischt werden. Auf den Boden legt Inessa Emmer einen nicht grundierten Baumwollstoff und darauf die eingefärbten einzelnen Holzplatten. Nun beginnt der heikelste und immer wieder Überraschungen bereithaltende Arbeitsschritt: Die Künstlerin stellt sich auf die Druckplatten, bewegt sich auf ihnen. Je nach Länge dieses Vorgangs entsteht eine deckende oder – bei kurzer, tänzelnder Bewegung – eine lasierend schimmernde Farbschicht. Dann weitere Farbaufträge und zum Abschluss die gegenständlichen oder figurativen Elemente, mit ausgeschnittenen Platten oder Stempeln aufgetragen. Die entstehende Farbvielfalt der vom Hintergrund über den Mittelgrund bis zum Vordergrund immer wieder übereinander gedruckten Farben ist mit dem klassischen Pinsel oder mit einer Sprühdose nicht zu erzielen. Charakteristisch für ihre Holzschnitte ist die Kombination verschiedener Schneidetechniken, wie die Verwendung von klassischen Hohleisen, um die Figuren ins Holz zu schneiden, in Verbindung mit Stempeln für die flächigen Teile des Werkes, die sie mit der Säge herstellt.
In ihren jüngsten Arbeiten, zu Serien zusammengefasst, experimentiert Inessa Emmer mit verschiedenen neuen Bildträgern und Oberflächen. So druckt sie auf Betonuntergründe oder Keramikkacheln, die sie zu großformatigen Wandgestaltungen zusammenfügt. Oder sie lässt Bildelemente plastische Realität werden, indem sie einzelne Motive in Bronze oder in Beton gegossen als Plastiken in den Raum stellt. Besonders vielversprechend sind ihre neuesten Drucke aus der Serie „Mirrors“ auf schwarzgrundierter Leinwand, die eine überwältigende Farbkraft entwickeln. Schon nach wenigen Jahren hat Inessa Emmer ein überzeugendes künstlerisches Konzept hervorgebracht, das mit komplexen Kompositionen und einer enormen Suggestion von Farbwirkungen der langen Tradition der Holzschnittkunst neue, innovative ästhetische Ergebnisse hinzufügt.
[i] Inessa Emmer im Gespräch mit Martin Leyer-Pritzkow, in: Ausstellungskatalog Colour Cut Cut Colour , Düsseldorf 2021, S. 2f.