Dr. Alexander Grönert: Technik, Material und Muster in den neuen Arbeiten von Inessa Emmer

Inessa Emmer entdeckte bereits während des Studiums an der Technischen Universität Dortmund und der Kunstakademie Düsseldorf den Holzschnitt für sich. Inzwischen steht er im Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit. Emmers Interesse am Holzschnitt wurde durch die großformatigen Arbeiten von Gert und Uwe Tobias geweckt. Inzwischen hat sie jedoch einen eigenen Weg eingeschlagen. Ihre großformatigen Holzschnitte stehen für das Jetzt des Holzschnitts, dessen Möglichkeiten sie souverän und auf höchstem handwerklich Niveau für ihre Arbeit nutzt.

Wegen ihrer großen Formate und starken Farbigkeit wirken Emmers Holzschnitte wie Werke der Malerei. Warum greift die Künstlerin nicht zum Pinsel, wenn großformatige, die Möglichkeiten des traditionellen Holzschnitts überschreitende Unikate ihr Ziel sind? Die Antwort lautet: Weil Emmers Bilder erst durch den Holzschnitt zu dem werden, was sie sind: hochkomplexe und zugleich spielerisch schwebende, sich selbst reflektierende Kunstwerke, deren Wirkung auf dem Ineinandergreifen von Bildererfindung und technischer Verwirklichung beruht.

Die Künstlerin verwendet jeweils mehrere Druckstöcke; zahlreiche Druckvorgänge sind notwendig, bei denen nicht nur unterschiedliche Motive nebeneinander, sondern auch mehrere Farbschichten übereinander gedruckt werden. Die Ergebnisse, die Emmer mit diesem komplizierten Verfahren erreicht, zeichnen sich durch strahlende Farbigkeit und malerischen Effekte aus. Zugleich nehmen wir aber auch noch etwas anderes wahr, das ebenfalls mit dem Druckverfahren zusammenhängt. Denn bedingt durch das Arbeiten mit mehreren Druckstöcken behalten die unterschiedlichen, teils figurativen, teils abstrakten Elemente, aus denen die Bilder aufgebaut sind, eine gewisse Autonomie. Die einzelnen Motive scheinen sich ihrer Eingliederung in den Kontext des Bildes zu widersetzten. Es wirkt, als bestünde zwischen ihnen nur eine lose Verbindung, die weder durch den formalen Aufbau noch durch den erzählerischen Zusammenhang vollständig gefestigt werden kann. Emmer verstärkt den Eindruck des Für-sich-stehens noch durch den Verzicht auf Schattenwürfe bei den dargestellten Figuren und Gegenständen. Ein Moment der Diskontinuität zieht ins Bild ein. Zusammen mit der märchenhaften Farbigkeit der Drucke trägt es zur magisch-irrealen Stimmung bei, die von ihnen ausgeht.

Etwas Ähnliches lässt sich bei den farbigen Fonds beobachten. Hier konkurriert der malerische Gestus der Bilder mit der rasterartigen Anordnung der Druckplatten: Sobald wir in der wolkig bewegten Farbfläche, die in Altes Kamuffel von 2019 den Hintergrund einer märchenhaften Landschaft bildet, die Konturen der Druckplatten entdeckt haben, beginnt die Frage nach dem drucktechnischen Verfahren jene nach der Darstellung ein Stück weit zu überlagern. Am Ende steht die Erkenntnis, dass die suggestive Wirkung der farbigen Fonds auf einem kalkulierten Spiel mit dem Zufall beruht: Die wolkige Unregelmäßigkeit des Farbauftrags entsteht, indem die Künstlerin sich beim Drucken mit dem eigenen Körpergewicht auf den Platten bewegt. Was dabei genau herauskommt, sieht sie erst, wenn der Druckvorgang beendet ist. Genaue Planung und Zufall bedingen sich in Emmers Bildern gegenseitig. Ihr Wechselspiel erzeugt einen Zustand der Schwebe, der der Anmutung von Märchenhaftigkeit noch etwas hinzufügt und den Bilder Lebendigkeit verleiht.

Zu den Motiven von Emmers ersten Holzschnitten gehörten merkwürdige Mischwesen aus Menschen und Pflanzen oder Früchten. Die Künstlerin kombinierte antike Mythologie, christliche Ikonografie, Alltagsgegenstände und Landschaftsfragmente zu Bildern, die zeitlose Geschichten über den Menschen zu erzählen scheinen. In späteren Arbeiten verschwindet der Mensch aus den Bildern, nicht aber die Hinweise auf ihn etwa in Form von Spielfiguren, Hydranten oder seltsam altmodischen Reisekoffern. Wir sehen exotische Pflanzen, manchmal auch technische Geräte, aber keine Smartphones, Autos oder Züge. Es ist eine höchst merkwürdige, jedoch alles andere als bedrückende Traumwelt, in die wir geraten, wenn wir uns von Inessa Emmers Bildern in den Bann ziehen lassen.

In einer Reihe ihrer Arbeiten beschäftigt sich die Künstlerin mit der Differenz von Bild und Grund zum Beispiel indem sie figurative Elemente des Bildes über dessen Grenzen hinweg auf die Blattränder ausgreifen oder von außerhalb in sie hineinragen lässt. In der 25-teiligen Serie Karneval in Rio von 2020 verbinden sich florale Formen über mehrere Drucke hinweg zu einem großen, die Grenzen der einzelnen Bilder sprengenden Mustern. In Deconstucted entwickelt sich ein ungegenständliches Bild über ein auf dem Boden ausgelegtes Raster aus Rohkeramikkacheln hinweg, das beliebig erweiterbar zu sein scheint. Florale und geometrische Muster sind wiederkehrende Elemente in Emmers Bildern. Eingefasst von der Kontur eines Kleidungsstücks können sie dessen Musterung darstellen, ohne dabei ihre Selbständigkeit als Flächenornament zu verlieren; als unabhängige kreisrunde oder quadratische Form hingegen wirken sie wie Löcher im Gewebe der Bilderzählung. Sehr effizient sind auch die amorphen Formen mit schwarzweißer Musterung, die immer wieder in ihren Bildern zu finden sind und je nachdem, in welchem Umfeld sie auftauchen, wie abstrahierte Tierdarstellungen oder Bildstörungen wirken. Solche Formen lassen uns aufmerksam werden, sie zwingen uns, über den Status der Bilder nachzudenken: Wo beginnen und wo enden sie, was ist ihr Verhältnis zur Wirklichkeit und was sagen sie über die Wirklichkeit aus?

Schwarzweiß gemusterte Formen mit amorpher Kontur gibt es bei Emmer inzwischen auch als plastische Arbeiten. Dass diese Form sich verselbständigt und aus der Bildfläche springt, erinnert uns daran, dass der Holzschnitt stets eine skulpturale Komponente hat. Der Weg vom Relief des Druckstocks zur frei im Raum stehenden Plastik ist daher als eine konsequente Entfaltung von Potentialen zu verstehen, die der Technik des Holzschnitts innewohnen. Zum Experimentieren mit dem Material gehört auch, dass Emmer nicht nur auf Papier druckt, sondern auch auf Baumwollnessel oder Leinwand; schwarz grundierte Leinwände verleihen ihren Farben Tiefe und Strahlkraft. Inzwischen druckt und zeichnet sie auch auf Rohkeramik und Beton. Emmers aktuelle Arbeiten zeigen fragmentierte Formen zumeist floralen Ursprungs, die in geometrische Muster eingespannt sind, bei deren Anordnung die Künstlerin auf Verfahren der achsen- beziehungsweise punktsymmetrischen Siegelung zurückgreift. Muster und Material sowie der Sprung in die dritte Dimension bilden auch die Basis für Emmers jüngsten Versuch über die Differenz von Bild und Grund: Ein etwas mehr als handgroßes Betonrelief mit einem stilisierten floralen Muster bildet den Rapport, das heißt die kleinste Einheit eines Musters, das durch Anlegen weiterer Reliefs mit dem gleichen Motiv nach allen Seiten erweitert werden kann. Überraschenderweise hat Emmer auf eine farbige Gestaltung der Reliefs verzichtet. In der Hattinger Ausstellung bleibt zwischen den einzelnen Reliefs ein schmaler Streifen des Fußbodens sichtbar, wodurch der Boden, auf dem das Rapportmuster ausgelegt ist, zum Grund des Bildes wird. Die Polarität erhabener und flacher Bildsegmente und, korrespondierend damit, der Kontrast von Hell und Dunkel lassen einen Rhythmus entstehen, der über die einzelnen Teile der Arbeit hinweg schwingt. Leaves ist ein Beispiel für die von Emmer begonnene Untersuchung wesentlicher Komponenten des Bildes sowie für ihre Interesse an der Skulptur. Rapportmuster und symmetrische Spiegelungen stehen der Mathematik nah, was eine Abkehr von der surrealen Phantastik früherer Arbeiten bedeutet. Erhalten bleibt, dass Emmers Bilder auch eine geistige Dimension ansprechen und die spielerische Leichtigkeit, mit der sie das tun. Die neuen Arbeiten belegt Emmers Vielseitigkeit und Konsequenz beim Experimentieren mit den bildnerischen Mitteln. Auf ihren weiteren Weg darf man gespannt sein.

Dr. Alexander Grönert